Nur ein Teil von mir lebt / Antwort

HalbesGesichtSchaut man im Duden nach Synonymen, findet man: „zu kurz kommen“. Ich stelle mir dabei Menschen vor, die zum Buffet im Speisesaal eilen, weil keiner zu kurz kommen möchte. Dies ist eher auf andere Personen gedeutet in dem Sinne eines Schlecht-Wegkommens oder Leer Ausgehens. Auch der Ausdruck: nicht auf seine Kosten kommen trifft die hinter der Aussage der Frau stehende Emotion meines Erachtens nicht. Vielleicht ist der andere Teil ja tatsächlich nicht mehr vorhanden, vergleichbar Menschen, dem ein Teil amputiert wurde?

Eher erscheint es, als leide sie darunter, dass ihr der Zugang zu einem Teil von sich fehlt. Sie fühlt sich eben nur halb. Auf der körperlichen Ebene kann es passieren, dass uns ein Teil von uns, manchmal eine Körperhälfte, nicht mehr bewusst ist, beispielsweise nach einem Schlaganfall. Man nennt das Neglect. Andererseits ist die Fähigkeit Teile unseres Erlebens abspalten zu können eine Funktion, die zum Normalen gehört. Es handelt sich dabei um eine Anpassungsreaktion, die ein Funktionieren in gewissen Situationen erst ermöglicht. Das einfachste Beispiel ist die Fähigkeit sich zu konzentrieren. Dabei handelt es sich um eine gerichtete Aufmerksamkeit für das, was uns gerade wichtig ist. Im körperlichen zeigt sich die Fähigkeit zur Abspaltung einzelner Funktionsbereiche in der Schockreaktion bei Blutverlust. Die Gefäße der Extremitäten verengen sich, Arme und Beine werden kalt, damit dem Herzen und dem Gehirn noch ausreichend Blut zur Verfügung steht, um das Leben aufrecht zu erhalten. Untersucht man die Durchblutung während wir uns auf ganz bestimmte Tätigkeiten konzentrieren, so zeigt sich dies ebenfalls in einer Veränderung des Blutflusses im Gehirn zugunsten der Region, die gerade beschäftigt ist. Auch das was wir als psychischen Schock bezeichnen, dient dem Überleben. In Phasen des Erlebens von extremer Bedrohung (sei es materiell oder psychisch) handeln wir dann wie automatisch, spüren uns kaum. (So kommt es etwa bei traumatischen Erlebnissen dazu, dass wir uns erleben, als stünden wir neben uns und auch durch unsere Umwelt so wahrgenommen werden. Das Zustandsbild wird oft als Schock bezeichnet. Dabei reagieren wir trotzdem oft noch sehr korrekt, quasi automatisch. Auch hier kann es jedoch im Falle andauernder Traumatisierung dazu kommen, dass wir uns quasi selbst kaum noch spüren, dass sich der Zustand irgendwann ver – selbst – ständigt im wahrsten Wortsinn.)

Es wäre theoretisch denkbar, dass sich der Zustand bei der Frau nach einem Schockereignis einstellte. Wahrscheinlicher ist, dass es sich um einen längeren Prozess handelte, der zu dem Zustand führte, wie er durch die Frau beschrieben wird. Ich vermute, dass sie über längere Zeit hinweg Bedürfnisse zurückgestellt hat, zugunsten anderer Dinge. Diese Zurückstellung kann jedoch zu einem eigenen Problem werden, vergleichbar einem Menschen, der immer mehr Schulden macht. Zunächst bedeutet das Geld, das ihm dadurch zur Verfügung steht vielleicht eine Entlastung indem es Bedürfnisse befriedigt. Unter Umständen wird daraus jedoch eine zunehmende Belastung. Es gelingt irgendwann kaum noch, die Mahnungen zu ignorieren und spätestens wenn der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht, zeigt sich, wenn man zu viele Kredite aufgenommen hat.

Bezogen auf unsere Bedürfnisse gelingt uns manchmal diese zu einem anderen Zeitpunkt nachzuholen, vergleichbar einem Menschen, der Schulden aufgenommen hat, weil ihm vorübergehend ein Geldbetrag nicht zur Verfügung stand.

Wenn wir unsere Bedürfnisse zu einem späteren Zeitpunkt nachholen können, fühlen wir uns ganz bei uns oder wieder vollwertig. So vorteilhaft die Fähigkeit des Aufschiebens ist, so problematisch kann es auch sein, wenn wir irgendwann unsere Bedürfnisse aus dem Blickwinkel verlieren, quasi nicht mehr fühlen.

Was wäre der Frau zu raten? Möglicherweise beinhaltet ja die Frage bereits eine Lösung. Vielleicht könnte sie sich ja auf die Suche machen, nach dem anderen Teil, von dem sie vermutet, dass er nicht erlebt wird. Es könnte möglicherweise helfen, das derzeitige Leben anzuschauen, besonders den Teil, den sie spürt und eine Liste zu machen, was wirklich für sie wichtig ist, Ziele zu definieren, eine Existenzanalyse vorzunehmen. Die Existenzanalyse (existere lat. Vorhanden sein, analyse griech. Auseinandernehmen, – zu analysieren, was da ist) findet sich in verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren. Es geht darum, wieder Sinn im Leben zu spüren, als auch Möglichkeiten für einen besseren Umgang mit Unvermeidbarem einschließlich Schuld und Leid zu finden. Hierzu bedienen sich die Methoden verschiedener Techniken, die darauf hinauszielen, die intuitiven, sozialen und kreativ- geistigen Fähigkeiten von Betroffenen zu stärken und diese einzusetzen beim Finden sinnvoller Lösungen in den jeweils konkreten Lebenssituationen.