Verzerrte Umwelt / Antwort

FrauenblickverzerrtDiese Dame schildert ein Gefühl der Entfremdung, das in der psychiatrischen Terminologie in der psychopathologischen Befunderhebung als Derealisation bezeichnet wird. Menschen nehmen Personen oder auch Objekte ihrer Umwelt als verzerrt, verändert, fremd, nicht zu sich gehörig, leblos, fern oder unwirklich wahr. Im DSM, einem Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen wird das Phänomen den dissoziativen Störungen zugerechnet. Hier kann bereits durch den Namen: dissoziativ (abgespalten) eine Zuordnung in Bezug auf eine denkbare Ursache der Störung getroffen werden. Aspekte der Umwelt oder auch des inneren Empfindens werden gleichsam abgespalten (s. auch Text zum Bild: halbes Gesicht). Bei dem Abspalten handelt es sich eigentlich um eine lebenswichtige und normale Funktion. Sie ermöglicht es uns, besonders belastende Erlebnisse von unserem sonstigen Erleben abzuspalten, die ansonsten für unser Leben kaum zu verarbeiten wären und ein Risiko zusammenzubrechen beinhalten würden. Problematisch wird es, wenn sich das Abspalten verselbstständigt, wenn wir uns nicht mehr als integriertes Wesen wahrnehmen. Häufig tritt diese Störung als Symptom einer anderen psychischen Störung auf. Sie kann aber auch im Zusammenhang stehen mit Erschöpfung, psychischen Krisen oder dem, was man gemeinhin als Burnout bezeichnet. Bei der Suche nach einer möglichen Ursache ist demnach zunächst auf eine unterliegende andere psychische Störung zu achten.

Neurobiologisch wird die Störung als Störung gesehen, die es Betroffenen erschwert zu unterscheiden, ob das was sie wahrnehmen von ihrer Außenwelt stammt oder aus ihrem Inneren. Hierfür ist stets eine gewisse Schwäche der Ichfunktion, als Struktur, die gemäß dem Hirnforscher Gerald Hüter durch erfahrungs- und nutzungsabhängig herausgebildete, strukturell verankerte innere Beziehungsmuster charakterisiert ist. Es gibt kein ICH ohne den Anderen (besonders die belebte Umwelt ist für die Ausbildung eines stabilen ICHs von immenser Bedeutung). Dementsprechend bedeutet eine Verunsicherung auf der Ebene des Ichs, sei es aufgrund einer bereits zuvor eingeschränkten Ichfunktion (z.B. bei schlechtem Bindungserleben in der frühen Kindheit) oder aufgrund einer tiefgreifenden Verunsicherung durch erschütternde Erlebnisse, etwa bei Folteropfern automatisch eine Veränderung der Wahrnehmung von uns selbst in Bezug auf die uns umgebende Welt.
Was können wir der Frau raten? Wenn ihre Störung ein Ausdruck erlebter Verunsicherung ist, wäre zunächst eine gleichbleibend wertschätzende Umgebung wichtig. Dies kann eine Psychotherapie sinnvoll erscheinen lassen, aber auch andere Kontakte, die diese Bedingung erfüllen. Durch eine personelle wertschätzende Konstanz kann sie sich selbst erleben im Verhältnis zu ihrer Umwelt. Dies ermöglicht ihr Herrschaft über ihr Selbst zu erlangen, das zuvor noch verwoben war mit der von außen erlebten Bedrohung gepaart mit einem Erleben von Kontrollverlust.