Warum bin ich überhaupt noch am Leben? / Antwort

DamebesinnlichDas Gefühl ist nachvollziehbar. Trennungen tuen weh. Aber nicht nur im Alter, während unseres gesamten Lebens erleben wir Trennungen. Das beginnt mit dem Verlassen der Bauchhöhle und hält bis in das hohe Alter an.
Vielleicht würden Sie der Frau ja raten sich neue Freunde zu suchen, aber beantwortet das ihre Frage?
Die Frage der Dame könnte als Sinnfrage begriffen werden. Vielleicht hat die Dame Kinder großgezogen oder viel gearbeitet? Aber was ist dann mit Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind oder Menschen, die wegen einer Behinderung oder einer Erkrankung nicht so wie andere am Berufsleben teilnehmen können oder wieder andere, die keine Kinder haben können?
Es gibt Therapierichtungen, deren zentrales Ziel die Suche nach einem Sinn ist. Ein typischer Vertreter ist die Existenzanalyse oder auch Logotherapie nach Viktor Frankl (logos bedeutet im griechischen „Sinn“). Frankl unterstellt dem Menschen ein Streben, seinem Leben einen Sinn zu verleihen. Voraussetzung dafür ist ein Bewusstsein des Handelns, Fühlens und Wollens (etwa im Vergleich zum Tier). So vorteilhaft dies erscheinen mag, bedeutet es jedoch auch einen Zwang zwischen scheinbar unendlich viele Optionen entscheiden zu können, sich jedoch stets nur für eine Option entscheiden zu können. Das kann unter Umständen sehr schmerzhaft sein, etwa bedeuten zwischen Karriere und Familie entscheiden zu müssen (oder auch beides unter einen Hut zu bringen versuchen, was jedoch wiederum auch eine Entscheidung gegen die Gesundheit oder zumindest für ein Leben mit vermehrtem Stress bedeuten kann). An dem letztgenannten Beispiel sehen sie die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen des Seins. Idiomatisch drückt sich dies in dem Spruch aus: „der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach“. Wenn man die Psyche als erweiterten Teil des Körpers – eben das Gehirn – betrachtet, dann erscheint das Sprichwort erst recht logisch. Man denke an die „Sünden“ bei Diäten. Ist es etwa mein Arm als Teil meines Körpers, der den Schokoriegel greift, meine Hand, die ihn bezahlt? Die Frage nach dem Sinn stellt sich nicht nur in der Gegenwart, sondern wenn wir in die Zukunft schauen oder zurückblicken. Der Gesichtsausdruck der älteren Dame erweckte bei mir den Eindruck, als blicke sie zurück. Womöglich denkt sie an gemeinsame Erlebnisse mit Freunden, die verstorben sind? Ich denke, die Frage der Dame nach dem Lebenssinn ist ein hilfreicher Ansatz in einem Prozess der Besinnung. Sie kann dazu dienen, ist womöglich sogar erforderlich, um zu Zufriedenheit zu gelangen. Zwar ist der Mensch nie frei von Bedingtheiten und Prägungen persönlicher, typologischer, biologischer, sozialer und kultureller Art – dies wurde oben am Beispiel von Menschen, die von Arbeitslosigkeit oder anderem Schicksal betroffen sind verdeutlicht – jedoch eröffnen sich täglich Situationen in denen wir gestaltend eingreifen können – unser Schicksal quasi selbst in die Hand nehmen können. Im Fall der älteren Dame kann die Erkenntnis des Verlusts (dies kann sowohl Personen, Güter, als auch Fähigkeiten betreffen und auf emotionaler Ebene schmerzhaft sein) ihr dazu verhelfen ihr Leben als Summe von Erlebnissen neu zu bewerten und dadurch wiederum mit einem neuen Gefühl zurückzublicken, etwa mit Stolz oder Zufriedenheit, als Ausdruck eines inneren Friedens. Wenn ihr das gelingt, fällt es ihr leichter nach vorn zu blicken vielleicht mit der Naivität, die Kindern eigen ist: mal sehen, was da noch kommt. Von einem Song der Band: „The Animals“ stammt folgender Satz: „when I think of all the good times I`ve been wasted having good times”.